Liebe Freunde,
der Aufstieg zum Wandfuß erwies sich wie erwartet als unwegsam und lang. Einen Tag später als ursprünglich geplant starteten wir am 18. April von unserem ABC.
Wegen sehr starker, anhaltender Bauchschmerzen stieg Ralf mit Sitaram – unserem Koch – ins Chinese Basecamp ab. Ich hielt hier oben gemeinsam mit den “Schneehühnern” die Stellung. Ein sehr
hilfsbereiter mexikanischer Arzt konnte Sitaram helfen, und schon nach einem halben Tag fühlte er sich besser, sodass am Nachmittag beide wieder ins ABC aufsteigen konnten, worüber ich mich
riesig freute.
Die ersten hundert Meter vom Basislager entfernt, trafen wir noch auf alte, zum Teil sehr wackelige Steinmänner von der Herbst-Expedition von Alberto Iñurategi. Danach bauten wir alle 50 Meter
einen neuen. Mit ca. 15 kg am Rücken war der ständige Steinmännerbau dann doch eine längere Prozedur. Aber lohnend – wir werden noch ein paar Mal den Zentralen Rongbuk-Gletscher mit seinen
riesigen Büsereistürmen hinauf- und wieder hinunter müssen. Und die Wegfindung wird dann um Vieles einfacher sein.
Am Nachmittag hatte es zugezogen und leicht zu schneien begonnen. Bei fast Null Sicht entschieden wir kurzfristig eine erste Nacht am letzten Moränenhügel zu verbringen.
Bei strahlendem Sonnenschein stiegen wir am nächsten Morgen angeseilt weiter über den flach ansteigenden, sehr spaltenreichen Gletscher bis zum Wandfuß auf 6200 m auf. Wegen des sehr
niederschlagsarmen Winters sind die Spalten zumeist zu erkennen oder nur sehr oberflächlich mit einer tückischen Schneeschicht überzogen.
Nach 5 Jahren standen wir nun wieder direkt vor der Everest Nordwand. Unweigerlich kreiste nur ein Gedanke: Werden wir es diesmal schaffen durchzusteigen? Ständig suchten die Augen nach der
bestmöglichen Linie. Beide blieben wir mit dem Blick am Einstieg hängen. Wo werden wir den Bergschrund überwinden können? Gleich morgen früh würden wir den ca. 400 m langen “Spalt” zwischen
Gletscher und dem steil abbrechenden Eis der Nordwand genau anschauen.
Erstmal bauten wir unser kleines Zelt auf und verankerten es mit Eisschrauben am Boden, hatte uns doch Charly Gabl – langjähriger Freund und unser Meteorologe aus Innsbruck – ca. 60 km/h
Wind vorausgesagt. Die üblichen 5 Liter Flüssigkeit für jeden von uns dauerten lange, aber es war noch früh am Tag und wir wollten hauptsächlich die Wand inspizieren, sodass der Kocher
nebenbei dahinschnurrte.
Mit Einbruch der Dunkelheit schlüpften wir schon in unsere Schlafsäcke. Außer den Windgeräuschen und dann und wann das tosende Geräusch eines herab fallenden Eisseracs war nichts zu hören. Ewig
weit weg von jeglicher Zivilisation, lagen wir zufrieden und voller Zuversicht auf den nächsten Tag in den wärmenden Daunenschlafsäcken.
Gut ausgeruht starteten wir nach dem Frühstück Richtung Wandfuß. Am rechten Rand fanden wir bereits eine zwar waghalsige aber höchstwahrscheinlich doch irgendwie überwindbare Schneebrücke. Etwas
fragil aber möglich. …….
Trotzdem wollten wir uns vergewissern, ob es nicht doch noch einen besseren Einstieg geben würde. Ganz links war der Bergschrund über wenige Meter nur ca. einen Meter breit, dort könnte es gut
klappen. Wir wollten wenigstens die erste Seillänge klettern, um die Konsistenz des Eises zu spüren. Ein großer Spreizschritt an die Wand, Eisgeräte setzen und sofort eine Eisschraube drehen. Der
Blick in den sicher 40 m tiefen Abgrund zwischen Wand und Gletscher ist schon sehr respekteinflößend.
Danach einige Meter senkrecht hinauf, die zum Teil 20 cm dicke Schneeauflage ist nicht wirklich mit dem Eis verbunden, dementsprechend schlecht der Halt der Eisgeräte. Danach legt sich das
Gelände etwas zurück, in dem sehr harten Eis erweist sich aber auch hier das Setzen der Eisschrauben als sehr mühsam. Danach abseilen. Gut, nun wissen wir ein bisschen mehr. Ralf meinte, nun
haben wir dem Everest gerade mal am Hintern gekitzelt. Immerhin schon was. 🙂
Langsam kehrten wir zu unserem Zelt zurück, es hatte zu stürmen begonnen. Plötzlich wurde unser kleines Zelt zur wunderbarsten Insel der Welt. Charly behielt wie fast immer recht – während
der Nacht fürchteten wir mehrfach um die Bodenhaftung unserer kleinen Behausung. Der Wind hielt uns beinahe die ganze Nacht über wach. Viel Zeit zum Gedankenaustausch: positiv, der kaum
vorhandene Stein- und Eisschlag, der auf die noch sehr niedrigen Temperaturen zurückzuführen ist. Große Bedenken dagegen von Ralfs Seite wegen des Zeitbedarfs für zusätzliche Sicherung im harten,
fast durchgängigen Blankeis und den damit verbundenen Mehrbiwaks – deren Plätze bisher noch nicht wirklich erkennbar sind. Ich hingegen bin positiv und glaube an mögliche weitere Biwakplätze, die
uns von hier aus noch verborgen blieben. Vom Nordsattel bei unserer weiteren Akklimatisation werden wir mit dem Fernglas mehr erkennen können.
Bei immer noch starkem Wind bauten wir das Zelt am nächsten Morgen ab und vergruben es samt Schlafsäcken und Matten in einem ausgehackten Eisloch. Noch zwei Markierungsstangen – und danach ab ins
Basislager, zu Sitaram und Tashi.
Über jeden von unseren Steinmännern freuten wir uns und waren uns einig, dass wir einen guten Weg gefunden und markiert hatten. 🙂
Unweigerlich schlich sich unterwegs die Vorstellung von Gemüsereis, Polenta, noch immer “frischen” Karotten und Radi ein.
Angekommen im Basislager, raus aus den dicken Expeditionsschuhen und erst einmal eine Tasse Milchtee, den Sitaram immer besonders gut mit Kardamon zubereitet.
Nun werden wir noch einen Tag hier verbringen und dann zur nächsten Akklimatisation aufbrechen. Geplant haben wir vom Wandfuß aus über die alte Odellroute zum Nordsattel aufzusteigen. Dort oben
möchten wir eine Nacht verbringen und eventuell noch zwei weitere ein Stück oberhalb des Nordsattels.
Danach werden wir uns wieder melden. Bis dahin einen lieben Gruß aus unserer sonnigen, windgeschützten Basislagermulde.
Gerlinde und Ralf